Tier Wissen Ausstellen Strategien der Zusammenführung wissenschaftlicher und kuratorischer Praxis.
Eine interdisziplinäre Konferenz
Gut Siggen, 14.–20. September 2015

17. September 2015
10:30–12:00

TierAkustik: Archiv/Inszenierung/Nachleben

Moderation: Katja Kynast

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Sirenenphonogramme, Seekuhsonaten für gefährdete Medien und nächtliches Thierleben (Katja Kynast/Moderation, Denise Reimann, Esther Köhring, Stephan Zandt)
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Das Akustik-Panel

Stephan Zandt:
Alexander von Humboldt: Das nächtliche Thierleben im Urwalde (1849), Alexander von Humboldt/Aimé Bonplant: Simia trivirgata (1811)


Denise Reimann:
Archive der Stimme: Sirenenphonogramme 1925, 1938/46, 1981 und 2004

Material:

(1) Personalbogen/Journal des Berliner Lautarchivs + Tonaufnahme Kalifornischer Seelöwen des Zirkus Krone von 1925
(2) Ausschnitt aus Ludwig Koch: Memoires of a Birdman, London 1955. Darin Beschreibung einer Tonaufnahme von Kegelrobben im Jahr 1946 + Von Koch erstellte Tonaufnahmen von Kalifornischen Seelöwen der Londoner Zoos von 1938
(3) Zeitungsartikel + Tonaufnahmen von Hoover, 1981
Links/Literatur:
http://sounds.bl.uk/Environment/Early-wildlife-recordings/022M-1CS0070755XX-1100V0
http://www.sammlungen.hu-berlin.de/sammlungen/78/
http://www.iasa-online.de/files/2003_Lautarchiv.pdf
K. Ralls, P. Fiorelli, and S. Gish: Vocalizations and vocal mimicry in captive harbor seals, Phoca vitulina. Canadian Journal of Zoology, 1985. 63: p. 1050-1056.
Wolfgang Ernst: Lokaltermin Sirenen oder der Anfang eines gewissen Gesangs in Europa. Unter Mitwirkung von Martin Carlé, Karl-Heinz Frommolt und Tania Hron, in: Brigitte Felderer: Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium, Berlin 2004, S. 257-266.

Kurzbeschreibung:
(1) Am 11. September 1925 wurden unter der Leitung von Wilhelm Doegen, Sprachwissenschaftler und Gründer des Berliner Lautarchivs, und Konrad Theodor Preuss, Ethnologe am Berliner Museum für Völkerkunde, in Kooperation mit dem Zirkus Krone die Stimmen der dort zur Schau ausgestellten Iowa, Cheyenne und Arapaho phonographisch aufgezeichnet. In Personalbögen, die zu jeder im Lautarchiv durchgeführten Aufnahme erstellt wurden, sind Aufnahmekontext, Name, Herkunft, das Stimmprofil der Sprecher, ihre Sprache und der Inhalt des Gesprochenen notiert: Benjamin Kent (Ngú Kiove), Sun Road (Wotan) und Ernst Swallow (Néhe‘vats) sprachen an jenem Tag mit »heller (Fistel-)Stimme« Zahlenfolgen und Erzählungen sowie Kriegs-, Häuptlings-, Wolfs- und Liebesgesänge in den Aufnahmetrichter.
Dass man die so genannten »Völkerschauen«, die in deutschen Zoos, Zirkussen und auf Weltausstellungen veranstaltet wurden, nutzte, um die Stimmen der dort als Vertreter »exotischer« Ethnien und Religionen präsentierten Menschen einzufangen, zu katalogisieren und unter sprachwissenschaftlichen und -anthropologischen Gesichtspunkten zu studieren, war in der kolonialen Phonographie um 1900 durchaus nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist viel eher, dass die Tonaufnahmen von Kent, Sun Road und Swallow nur den kleineren und letzten Teil der Aufzeichnungen aus der Kooperation mit dem Zirkus Krone bildeten. Diese hatten bereits zwei Tage zuvor im Elefantenhaus begonnen: Am 9. und 10. September 1925 phonographierten Doegen und seine Mitarbeiter die Stimmen der Zirkustiere, genauer: die »Angstschreie, vermischt mit Trompetenstößen« der drei noch jungen indischen Elefanten Punshi, Purti und Sasha sowie der aus Sumatra stammenden älteren Elefanten Birma, Ratschin und Tiry. Neben den Lautporträts von Bären, Tigern und Löwen wurde auch das »Bellen, Beissen und Schreien« kalifornischer Seelöwen verewigt. Genau wie bei den Aufnahmen menschlicher Stimmen wurde zu jeder tierischen Tonspur ein Personalbogen erstellt, in dem die Art, die Herkunft, manchmal auch Name und Alter sowie gegebenenfalls Bemerkungen zu Aufnahmekontext und Stimmprofil der phonographierten Tiere vermerkt sind.
Wenngleich die Tierstimmenaufnahmen innerhalb des vorrangig menschliche Sprach- und Musikerzeugnisse versammelnden Lautarchivs eine kuriose und bis heute nicht vollständig geklärte Ausnahme bilden, scheint eines ziemlich sicher: Hier wurde wohl erstmals die Stimme eines Seelöwen, d. h. desjenigen Tieres phonographisch zu Gehör gebracht, dessen mythische Verwandten, die Sirenen, für ihre tödlichen und folglich nicht archivierbaren Stimmen bekannt waren.
(2) Im Sommer 1946 gelingt es dem Bioakustiker Ludwig Koch, die Laute von freilebenden Kegelrobben (Halichoerus grypus) aufzuzeichnen – ein Projekt, welches er schon seit mehreren Jahrzehnten verfolgt. Ausgestattet mit Mikrophon, Aufnahmegerät und Kopfhörern versteckt sich Koch in der Höhle der Robben und lauscht deren Stimmen, die er als »ghost sounds from the underworld« beschreibt. Schon 1938 hatte Koch die Laute von Kalifornischen Seelöwen aufgezeichnet, deren variierenden Tonhöhen er verschiedene (sprachliche) Bedeutungen zuwies.
(3) Am 11. November 1978 macht ein Tierpfleger des Bostoner New England Aquarium eine ungewöhnliche Entdeckung: Der ihm anvertraute Seehund namens Hoover scheint seinen eigenen Namen zu bellen. Und nicht nur das: Ganze Sätze lässt Hoover hören. Akzent und Intonation lassen darauf schließen, dass es sich um eine Imitation der Äußerungen von Hoovers früherem »Ziehvater«, dem Seemann George F. Swallow handelt. Durch seine »Sprachfähigkeiten« wird Hoover schnell zur Attraktion des Aquariums und ruft neue evolutionsbiologische Forschungen zum Laut- und Sprachverhalten von Robben auf den Plan.
Die Tonaufnahmen von Seelöwen und Kegelrobben 1925 und 1938/46 sowie die 1981 produzierte Aufzeichnung der Stimme Hoovers sollen als Ausgangspunkt dienen, um – gleichsam am Leitfaden der Sirene – über das Verhältnis von Tierstimme und Archiv nachzudenken. Dabei stellen sich mir zum einen Fragen nach den Techniken und Motiven der Archivierung von Tierstimmen: Mit welchem Interesse wurden und werden die Laute von Tieren archiviert und welche Rolle spielen die jeweiligen Aufschreibesysteme? Haben nicht nur menschliche Sprachen eine Geschichte, sondern auch Tierlaute? Wie haben Tiere früher geklungen (erlaubt die Konsultation von literarischen, wissenschaftlichen und anderen Quellen Zugänge)? Welche Darstellungs- und Übersetzungsproblematiken durchziehen die Geschichte der Tierstimmenaufzeichnung?
Zum anderen frage ich mich, inwieweit Tierstimmen selbst als Archive inszeniert und untersucht wurden. Abgesehen vom Vermögen zur Speicherung und Reproduktion vergangener Stimmen, das Hoover und vielen anderen zur akustischen Imitation befähigten Tieren zugeschrieben wurde, sind die Lautäußerungen von Tieren – aus evolutionsbiologischer, aber auch aus mythengeschichtlicher bzw. literarischer Perspektive – nicht selten als Archive der Ursprünge menschlicher Sprache interpretiert worden. Welche Spannungen und Übertragungen existieren zwischen beiden Lesarten des Ausdrucks »Archive der Stimme« (zum einen verstanden als »Archivierung von (Tier-)stimmen«, zum anderen als »(Tier-)stimmen als Archive«) und wie lassen sich diese produktiv machen für unsere Frage nach dem Wissen über, von und mit Tiere(n)?


Esther Köhring:
Heinrich Detering: „Requiem für eine Seekuh“, Antonia Baehr/Sabine Ercklentz „The Steller’s Sea Cow Sonata for Solo Performer and Endangered Media“

Material:
1. Heinrich Detering: „Requiem für eine Seekuh.“ In: Jahrbuch der Lyrik 2013, herausgegeben von Christoph Buchwald und Jan Wagner. München 2013. S. 10.
2. Video „The Steller's Sea Cow Sonata for Solo Performer and Endangered Media“,
Antonia Baehr/Sabine Ercklentz
3. „S is for Steller's Sea Cow“. In: Antonia Baehr and Friends: Abecedarium Bestiarium.Nyon 2013. S. 98-103.